Wo bitte liegt das Martinsviertel?

Von der erfolglosen Suche nach den Grenzen eines Stadtteils

Immer wieder wird im Quartier diskutiert, wo denn das Darmstädter Martinsviertel seine Grenzen hat. Zu dieser Frage gibt es fast so viele verschiedene Meinungen, wie der Stadtteil Einwohner hat. Am kleinsten ist das Martinsviertel der Statistiker. Es ist in zwei statistische Bezirke geteilt und wird durch Rhönring, Spessartring, Dieburger Straße, Mauerstraße, Lauteschlägerstraße, Kantplatz, Schloßgartenstraße und Frankfurter Straße begrenzt. Durch diese Grenzziehung werden allerdings z.B. die Bewohner der nördlichen Straßenseite des Rhönrings, die Bewohner der westlichen Straßenseite der Mauerstraße und die Bewohner der alten Vorstadt, die selbstverständlich alle ebenfalls Martinsviertler sind, aus dem Viertel ausgegrenzt. Der Kerbekranz würde danach im Exil aufgezogen, weil der Hahne-Schorsch-Platz außerhalb des Viertels läge. Damit kommt diese Grenzziehung höchstens für herzlose Hardcore-Bürokraten in Frage.

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    Um ein vielfaches größer ist das Martinsviertel, das uns Professor Dr. Werner Zimmer aus historischer Sicht in vielen Buch- und Zeitungsartikeln vorgestellt hat. Es reicht von der Frankfurter Straße bis an die Fasanerie und von der Dieburger Straße bis zur Maulbeerallee. Teil des Martinsviertels sind aus diesem Blickwinkel auch das Komponistenviertel, der Karlshof, der Ziegelbusch und der Bürgerpark samt Bürgerparkviertel.

    Als Wurzeln des heutigen Martinsviertels gelten die Vorstadt für Hofbedienstete, die ab 1590 an der heutigen Magdalenen- und Alexanderstraße entstand und als eigentlicher Ursprung des Viertels gilt, die Wirtschaftsgebäude und Lusthäuser der landgräflichen Hofhaltung und das Bauern- und Veteranenviertel vor den Toren der Stadt, das im 18. Jahrhundert am Arheilger Weg entstand.

    Das dörflich geprägte Bauern- und Veteranenviertel, in dem auch der städtische Watz seinen Platz im Faselstall bekam, wurde Pankratiusvorstadt genannt. Im Volksmund bekam es bald den Namen "Watzeverdel". Dieser Name hat sich erst nach dem letzten Krieg auf das gesamte Viertel übertragen.

    In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wuchs das Viertel über das alte Bauernviertel hinaus. 1885 entstand die Martinskirche, deren Name schließlich sowohl auf die Pankratiusvorstadt als auch auf das im Rahmen eines Baubooms mit rücksichtsloser Boden-und Bauspekulation entstandene Rhönringviertel übertragen wurde.

    Anfang des 20. Jahrhunderts entstand das heutige Komponistenviertel mit seinen Villen, ursprünglich als "Gartenstadt" für kleine Leute geplant. Es gehörte bis zur Gründung der Thomasgemeinde zur Martinsgemeinde und damit auch zum Martinsviertel. Über die Frage, ob das Komponistenviertel heute noch Teil des Martinsviertels ist, lässt sich trefflich streiten.

    Bald wuchs das Viertel über die ehemalige Bahnlinie hinaus und in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre entstand als bisher letzte Erweiterung auf dem ehemaligen Schlachthofgelände und dem Gelände der Gärtnerei Russler eine neue Bebauung, die den Namen Bürgerparkviertel erhielt. Ihr Wahrzeichen ist die Waldspirale von Friedensreich Hundertwasser.

    Wie groß das Martinsviertel ist und wo seine Grenzen liegen, ist schlicht und einfach Ansichtssache. Jeder kann sich sein ganz persönliches Martinsviertel zusammenstellen. Aber auch für die Bewohner des Martinsviertels gilt: Nicht jeder ist ein Watzeverdler!

Geschichte des Martinsviertels


Als Darmstadt im Jahre 1567 zur Residenz des Hessischen Landgrafen Georg I. wurde, war es ein heruntergekommenes Landstädtchen. Georg sorgte für Aufschwung und Wachstum, so dass schon ab 1582 die Wirtschaftsgebäude der Hofhaltung vor der Stadtmauer und dem Arheilger Tor erbaut wurden.

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    Die alte Vorstadt

    Um dem Wohnungsmangel abzuhelfen, kaufte Georg 1590 direkt im Anschluss an die Wirtschaftsgebäude ein aus Gärten und Weingärten bestehendes Gelände, um dort eine Vorstadt anzulegen. Kurz darauf begann der Bau der ersten acht Häuser für Hofbeamte in der heutigen Magdalenenstraße und oberen Alexanderstraße. Zu Beginn des 30jährigen Krieges hatte die Bebauung den heutigen Kantplatz erreicht.

    In den Jahren 1606/1607 wurde unter Georgs Sohn Landgraf Ludwig V. der Ballonplatz für das Ballspiel der Hofgesellschaft  angelegt. In seiner Regierungszeit wurden auch der unter seinem Vater begonnene Mauerbau fortgesetzt und das Sporertor an der wichtigen Straße nach Frankfurt sowie das Jägertor errichtet (Das Sporertor wurde 1810 abgerissen, das Jägertor 1824. Ein Teil des Jägertores blieb bis in die 1950er Jahre stehen und diente als Torwache und Polizeirevier).

    1672 erweiterte Landgraf Ludwig VI. die Vorstadt, indem er seinen Birngarten (heute untere Alexanderstraße) für den weiteren Straßen- und Häuserbau zur Verfügung stellte. Erst kurz vor 1700 war die Bebauung mit den typischen Schweifgiebelhäusern vollendet.

     

    Die Pankratius-Vorstadt

    In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelt sich vor dem Sporertor auf sumpfigem und feuchtem Gelände entlang des Arheilger Wegs und des Bangertswegs, umrahmt von einigen verstreut liegenden Gärten und Gartenhäusern, von denen das barocke Sipmännsche Gartenhaus in der Pankratiusstraße noch existiert, eine kleine Bauernsiedlung mit kleinen einfachen Häusern. Das Gelände war nicht zum Ackerbau geeignet, man opferte also kein wertvolles Ackerland.

    Auch hier entstanden schon vor der Wohnbebauung landgräfliche Wirtschaftsgebäude wie Zehntscheune, Heuwaage und Heumagazin. Grund für die Anlage der Wohn- und Wirtschaftsgebäude außerhalb der Stadtmauer war der Anstieg der Bevölkerung im 18. Jahrhundert.

    Zu den Bauern kamen bald als weitere Bewohner kleine Handwerker sowie Militärangehörige der unteren Ränge und einige Invaliden hinzu. Die dörfliche Ansiedlung kleiner Leute vor der Stadt erhielt den Namen Pankratius-Vorstadt, nachdem für die Bangertsgasse, deren Name sich aus dem Wort „Baumgarten“ ableitet, bereits 1791 erstmals der Name „Pancratiengasse“ aufkam, weil böswillige Darmstädter die Bangertsgasse zur „Bankertsgasse“ (Bankert = uneheliches Kind) gemacht hatten.

    Bis 1850 hatte sich das künftige Martinsviertel zu einer geschlossenen Siedlung entwickelt, die sich von der Schloßgartenstraße bis zur Dieburger Straße hinzog. Die Bebauung schob sich allmählich nach Norden und Osten vor. Die Bevölkerung bildete mit Bauern, Fuhrmännern, Handwerkern, Militärangehörigen und kleinen Gewerbetreibenden nach wie vor ein buntes Gemisch aus der Gesellschaftsschicht der „Kleinen Leute“. Der Zuzug erfolgte aus der Altstadt und dem Umland. Altstadt und Martinsviertel erhielten mit der 1823 am Ballonplatz eröffneten Schule eine gemeinsame Bildungseinrichtung, eine Freischule für die ärmere Bevölkerung.

     

    Von der Bauern- und Soldatenvorstadt zum Arbeiterviertel

    Nach 1850 setzt im Zuge der Industrialisierung ein ständiger Zuzug vom Land ein. Mietshäuser ersetzen Hofreiten. Ab 1870 entsteht ein regelmäßig angelegtes Straßenraster.

    Mit der 1885 erbauten Martinskirche und dem Riegerplatz erhält der nunmehr Martinsviertel genannte Stadtteil ein neues Zentrum. Schulen, Krankenhäuser, Altenheim und die Technische Hochschule entstehen.

    In der zweiten Phase  der Industrialisierung ab 1890 entsteht in kürzester Zeit das gründerzeitliche „Rhönringviertel“ mit viergeschossigen Mietshäusern. Als die überhitzte Baukonjunktur 1907 zusammenbricht, wird das Viertel wird zum „Hypothekenfriedhof“. Infolgedessen bleiben viele Grundstücke bis Anfang der 1930er Jahre unbebaut.

     

    Das Martinsviertel im 20. Jahrhundert: Ausdehnung über die Odenwaldbahn hinaus

    Um 1910 hatte die Bebauung des Martinsviertels die Bahnlinie im Norden, die Frankfurter Straße im Westen und die Dieburger Straße im Osten und damit eine vorläufige Grenze erreicht. Jenseits des Bahndamms standen an der Frankfurter Straße Schlachthof und Stadtgärtnerei, weiter im Osten die alten Ziegelhütten, der Karlshof und das Varieté-Theater „Orpheum“.

    Überwunden wurde der Bahndamm mit der Gartenvorstadt Hohler Weg, dem heutigen Komponistenviertel. Mit der Planung beauftragte der Verein „Gartenvorstadt Dieburger Straße – Hohler Weg“ 1905 Joseph Maria Olbrich. Nach seinem Tod 1908 überarbeitete Stadtbaurat August Buxbaum zusammen mit dem Architekten Wilhelm Koban die Pläne, nach denen ab 1909 die ersten Häuser entstanden. Bis 1914 waren 25 Häuser vollendet. Später entwickelte sich das nunmehr so genannte Komponistenviertel zum bürgerlichen und großbürgerlichen Wohnviertel.

    Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte die Entwicklung des Martinsviertels zum Stocken. Die Bautätigkeit kam zum Erliegen. Die städtische Bauverwaltung begann 1921 mit dem Bau von Wohnblocks auf der Trasse der ehemaligen Odenwaldbahn, die nach Verlegung der Bahnstrecke während des Kriegs abgetragen worden war. Bis 1929 entstanden in Rhön- und Spessartring städtische Not- und Sozialwohnungen in einer Länge von etwa anderthalb Kilometern. Auch innerhalb des Viertels schloss man am Friedrich-Ebert-Platz und an der Barkhausstraße die letzten Baulücken.

    Im November 1927 wurde die erste Omnibuslinie der HEAG eröffnet, die vom Schloss über die Hochschul- und Pankratiusstraße bis zum Riegerplatz führte.

     

    Martinsviertel und Drittes Reich

    Die Machtübernahme der Nationalsozialisten war zunächst an Straßenumbenennungen abzulesen. Der Friedrich-Ebert-Platz wurde zum Dietrich-Eckart-Platz, der Rhönring zur Schlageterstraße. Eine Weihestätte der NS-Organe war das Haus Heinheimer Straße 53. Hier hatte 1922/23 der 1901 geborene Martin Faust gewohnt. Er kam bei Hitlers Marsch auf die Münchner Feldherrnhalle am 9. Oktober 1923 im Kugelhagel der Polizei ums Leben. Die Nationalsozialisten feierten ihn deshalb als Märtyrer ihrer Bewegung regelmäßig auf dem Riegerplatz. 1936 wurde an seinem früheren Wohnhaus eine Gedenktafel enthüllt. An deportierte und ermordete jüdische Bewohner des Viertels und Regimegegner erinnern heute Stolpersteine vor ihren Häusern.

    Bereits 1941 gab es die ersten 10 Bombentoten im Viertel. Für Darmstädter Verhältnisse kam das Martinsviertel trotz vieler Zerstörungen aber vergleichsweise glimpflich davon.

     

    Das Martinsviertel seit 1945

    Nach dem Zweiten Weltkrieg erlitt das weithin von Bomben verschonte Martinsviertel erhebliche Eingriffe in seine Bausubstanz, vor allem durch Erweiterungen der Technischen Hochschule und durch Abrisse für den geplanten Bau der Osttangente.

    Wiederaufgebaut wurden einige markante Gebäude des Viertels wie Martinskirche, St. Elisabeth und Schillerschule.

    Die alte Bausubstanz führte dazu, dass viele Bewohner das Viertel verließen. Um zu verhindern, dass das Martinsviertel zu einem Elendsquartier wurde, wies es die Stadt als Sanierungsgebiet aus. Die städtischen Planer sahen eine Flächensanierung als das richtige Mittel, um aus den verdichteten Quartieren lebenswerte Viertel mit aufgelockerter Bebauung und viel Grün dazwischen zu schaffen.

    Einhergehend mit der Sanierung sollte das Martinsviertel durch die Osttangente, einer 33 Meter breiten Straße, vierspurig und mit Straßenbahn, die das Quartier als Nord-Süd-Verbindung zwischen Pützerstraße und Messplatz zerschnitten hätte, „aufgewertet“ werden. Viele Häuser hätten für diesen Plan fallen müssen. Die Bewohner hielten davon recht wenig und gründeten im Februar 1976 eine Bürgerinitiative, die nach jahrelangen Auseinandersetzungen die Osttangente verhindern konnte.

    Der Ruf des Martinsviertels als lebenswertes stadtnahes Wohnviertel hat durch die Sanierung enorm gewonnen, die Einwohner identifizieren sich mit „ihrem“ Viertel und pflegen seine Traditionen. Das älteste Darmstädter Viertel hat Zukunft – trotz aller Unkenrufe aus Bessungen.

    Dr. Peter Engels / Armin Schwarm